Zur Geschichte der Kinderheilkunde in Deutschland
Volker Hesse, Berlin

„Das Beste,was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt“

(Goethe, Maximen und Reflexionen, 495).

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Übersicht

Einführung
Kindermedizin in der Goethezeit (1750-1830) Neonatologie
Die Entwicklung von pädiatrischen Organisationsstrukturen Entwicklungswege zur stationären Versorgung kranker Kinder in Kinderkliniken in Deutschland
Pädiatrie im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts Kinderheilkunde in der Weimarer Republik und im“ Dritten Reich“
Die Nachkriegszeit
Pädiatrie aktuell
Zukunft der Pädiatrie
Ausgewählte Literatur

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Kenntnisse zur Geschichte der Kinderheilkunde sind ein wertvolles Gut für die heute tätigen Kinderärzte. Zeigt die Geschichte doch das erfolgreiche Bemühen der Vorväter um eine Verbesserung von Diagnostik und Therapie, um die Erkenntnis von pathophysiologischen Zusammenhängen und die Bemühungen um soziale Verbesserungen, die der Kindergesundheit zugute kommen. Kenntnisse über die grundlegenden Wurzeln der Kinderheilkunde erleichtern die Einordnung unserer heutigen Tätigkeit und stimulieren das Bemühen um eine weitere Optimierung der pädiatrischen Betreuung.

Der Begriff Pädiatrie wurde von dem Schweizer Arzt Theodor Zwinger im Jahre 1722 erstmals geprägt. Er setzt sich zusammen aus den griechischen Wörtern pais = Kind und iatros = Arzt. Zwinger gab 1722 ein Buch heraus, das über Kinderkrankheiten von Kopf bis Fuß (a capitale ad calcem) berichtete und den griechischen Titel „Paedojatreja practica“ trug.

Natürlich gab es die Heilkunde bei Kindern schon in früheren Kulturen. Der älteste bekannte Nachweis findet sich in einem ägyptischen Papyrus aus dem 16. Jahrhundert vor Christi, dem sogenannten „Berlin Papyrus 3027“.

 

Kindermedizin in der Goethezeit (1750-1830)

Die Anfänge der modernen wissenschaftlich und institu- tionellen Kinderheilkunde finden sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.

Wegweisend war hierbei Nils Rosén von Rosenstein, der Mitglied der Schwedischen Königlichen Akademie war und 1765 das Buch „Anweisungen zur Kenntnis und Chur der Kinder- krankheiten“ veröffentlichte. Dieses Buch enthält zahlreiche kritisch gesichtete eigene Beobachtungen und Erfahrungen des Autors.

Schon vorher gab es eine Reihe von Büchern über Kinderheilkunde, wie zum Beispiel das 1750 und 1751 in Eisenach erschienene vierbändige Werk „Theoretische und praktische Abhandlung von Kinderkrankheiten“ des Fürstlich Sächsischen Gothaischen Hofrates Dr. Johann Storch. Es richtete sich nicht nur an Ärzte, sondern auch an Eltern, ja beginnt schon mit dem Thema: „Wie sich Eltern, die gesunde Kinder wünschen und verlangen zu verhalten haben“.

Um die Zeitansicht, die sich besonders warnend an Geistesarbeiter wendet zu charakterisieren, schildere ich einmal, was nach Ansicht des Autors vor der Zeugung eines Kindes zu tun ist.

„Das Zeugen von Kindern“

„Leute, welche dem Studieren und tiefen Nachsinnen all zu sehr ergeben sind sollten zu der Zeit da sie Kinder zu zeugen sich vorgenommen sich Feyertage machen und von aller Gemüthsentkräftung und Gedachtnißarbeit ruhen, so würden sie Kinder zeugen, die zur Gelehrsamkeit geneigt wären.

Wenn aber durch all zu tiefes Nachdencken dem Saamen alle lebhafte und geistige Kräfte entnommen werden, so können auch von den gelehrtesten Vätern nicht als dumme Köpfe oder sonst am Leben schwächliche Kinder abstammen.“

Also, da hilft nur eins – Urlaub machen!

Der bekannte Arzt und Gesundheitspolitiker Johann Peter Frank (1745-1821) (Selbstbiographie 1802) schlägt sogar Unge- borenen vor, welche Eltern sie sich aussuchen sollen. So schreibt er 1802:

„Denjenigen, welche zu zukünftigen Weltbürgern bestimmt sind, rate ich im Ernste, sich von kraftvollen, zu denken fähigen und gutartigen Eltern, zu welchem Stande sie auch immer gehören mögen, erzeugen lassen.“

Die therapeutischen und diagnostischen Möglichkeiten zur Betreuung kranker Kinder waren im 18. und 19. Jahrhundert gering. Nach einer Statistik des bekanntesten Arztes der Goethezeit C. W. Hufeland (1762-1836) starben 327 von 1000 geborenen Kindern innerhalb der ersten 2 Jahre (ca. 1/3).

Hufeland verfasste schon 1827 eine Schrift mit dem Thema: „Von den Krankheiten der Ungeborenen“.

Die therapeutischen Möglichkeiten waren sehr begrenzt und umfassten schwerpunktmäßig vor allem Abführmittel und Emetika.

So verordnete auch der Militärarzt Friedrich Schiller hoch dosiert Emetika. Auch das einzige von ihm erhalten gebliebenes Rezept betrifft die Verordnung eines Emeticums.

Goethes Sohn August erhielt von seinem behandelnden Arzt nach zahlreichen Durchfällen sogar noch ein Brechmittel verordnet. Heute glatt eine Kontraindikation. Offensichtlich waren die Kinder damals „robuster“.

Der Vater der Sozialpädiatrie Johann Peter Frank (Göttin- gen, Pavia, Wien, Wilna, Petersburg, Wien) sah das „soziale Elend als Mutter der Krankheiten“ an. Im 2. Band seiner Schrift „System einer vollständigen medizinischen Polizey“ die 1780 in Mannheim erschien, forderte er vom Staat einen umfassenden Schutz für Schwangere und Kinder. 1784 sagte er aus: „In den Badischen Ländern ist eine Stute in den letzten sechs Wochen ihrer Tragzeit und auch sechs Wochen nach dem Fohlen froh und frei“ und forderte ähnliches für schwangere Frauen.

Frank beschäftigte sich mit Fragen der Schulhygiene und forderte die Erziehung und Bildung auch schwachsinniger (und behinderter) Kinder. Dem Staat schlug er vor, dass er Ärzte, die sich mit Kinderkrankheiten befassen, ermuntern, belohnen und auszeichnen soll. Eine Forderung, deren Erfüllung uns auch heute noch erfreuen würde. Frank, der die medizinische Soziologie zur Wissenschaft machte, ist letztlich einer der Vorreiter der sozialpädiatrischen Zentren. Das erste Zentrum dieser erfolg- reichen Organisationsstruktur in Deutschland das über einen umfassenden Betreuungsansatz verfügte, wurde im Jahre 1968 von Theodor Hellbrügge in München konzipiert.

 

Neonatologie

Der Begriff Neonatologie bezeichnet nach A. J. Schaffer die Kunst und Wissenschaft der „Diagnose und Behandlung von Neugeborenenkrankheiten“ (Schaffer u. Arvey 1960).

Einen Eindruck von der Neonatologie um 1749 erhalten wir aus zeitgenössischen Quellen. So berichtet Bettina von Arnim über die schwere asphyktische Geburt Goethes im August dieses Jahres. Sie schreibt an den Geheimrat Goethe:

„Durch Misshandlung der Amme kamst Du ganz schwarz und ohne Lebenszeichen. Sie legten Dich in einen sogenannten Fleischarden mit Wein und bäheten Dir die Herzgrube ganz an Deinem Leben verzweifelnd.“ (bähen = durch Umschläge wärmen).

Über weitere Zeugnisse der neonatalen Reanimation berichteten Quellen aus dem Jahre 1776. So empfiehlt A. v. Störck 1776:

„Kinder die gar kein Zeichen geben, dass in Ihnen noch einiges Leben sey, muß man in warme Leintücher einwickeln, und ihnen öfters ein Klistier beibringen; auch mit beiden flachen Händen ihre Brust manchmal gelinde zusammendrücken, und schnell auslassen, man klopft sie öfters auf die Brust und besonders auf die Herzgegend, man halt ihnen die Nase zu, bläßt ihnen zugleich in den Mund Luft ein.“

Besonders spannend fand ich ein von A. G. Richter berich- tetes Fallbeispiel einer Reanimation aus dem Jahre 1784 in der „Chirurgischen Bibliothek“:

„Ich legte sogleich meinen Mund auf den Mund des Kindes, bließ ihm unaufhörlich Luft ein, bewegte zugleicht ganz sanfte des Kindes Brust auf und nieder, ließ ein wenig Tabakrauch in den Hintern blasen und die Füße bürsten. … nach einer viertel Stunde that das Kind einen Seufzer und fing an Athem zu holen. (Es ist jetzt sechs Wochen nach der Geburt frisch und gesund).“

Bereits 1790 wurde empfohlen leblos geborenen Kindern Sauerstoffgas in die Lunge zu blasen. Über einen erfolgreichen Kaiserschnitt im Jahre 1783 berichtete der Arzt Goethes und Schillers, Johann Stark der Ältere. Bereits 1787 begründete er das „Archiv für Geburtshilfe, Frauenzimmer und Neugeborenen- krankheiten“ (1787-1804), das 1798 als „Neues Archiv“ auf die gesamte Kinderheilkunde erweitert wurde. Stark war übrigens auch Geburtshelfer von drei der vier Kinder Friedrich Schillers.

 

Die Entwicklung von pädiatrischen Organisationsstrukturen

Die ersten Bemühungen um eine eigenständige organi- satorische Entwicklung der Kinderheilkunde lassen sich im Jahr 1868 nachweisen. In diesem Jahre wurde eine Sektion Pädiatrik innerhalb der 1822 durch Jenenser Professor für Naturkunde Lorenz Oken gegründeten „Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte“ gebildet.

Die treibende Kraft hierbei war der Stettiner Kinderarzt August Steffen (1825-1910), der auch die Leitung der Sektion übernahm.

Ein fachlich-wissenschaftlicher Meilenstein war die Herausgabe eines „Handbuches der Kinderheilkunde“ durch den Würzburger Professor und späteren Berliner Ordinarius für Innere Medizin Carl Gerhardt (1833-1902). Autoren des Hand- buches waren der Pädiatrie verbundene Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Ungarn, Rußland und den USA ( Seidler 2008,S.21)

Die Gründung der „Deutschen Gesellschaft für Kinder- heilkunde“ erfolgte 1883 in Freiburg anlässlich der 56. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte. Für den Übergang zur wissenschaftlichen Pädiatrie ist auch der program- matische Vortrag von Bedeutung den Carl Gerhard 1879 vor der Berliner Gesellschaft für Natur-und Heilkunde gehalten hat. Er trug den Titel “Die Aufgaben und Ziele der Kinderheilkunde“.

Die akademische Kinderheilkunde fand im deutschsprachigen Raum in Wien und Berlin ihre erste Anerkennung.

 

Entwicklungswege zur stationären Versorgung kranker Kinder in Kinderkliniken in Deutschland

Als älteste Keimzelle einer Kinderklinik in Deutschland kann die Krankenstube des 1702 eröffneten Großen Friedrichs- Hospitals in Berlin angesehen werden. In dieser Stiftung des ersten Preußenkönigs Friedrich des I. war mit einer speziellen Hausordnung eine Krankenstube für Waisenkinder und andere Kranke installiert, die durch einen Stadtphysicus und einen Chirurgus versorgt wurden. Aus dieser Krankenstube entwickelte sich ein Kinderlazarett und hieraus eine Kinderklinik, die 1910 337 Betten aufwies und sich nach einem Umzug von Berlin– Rummelsburg sich heute in Berlin-Lichtenberg befindet. Es ist die heutige Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in Berlin- Lichtenberg. Die 300-jährige stationäre Betreuung kranker Kinder konnte 2002 mit einem Festsymposium gewürdigt werden (Hesse 2005).

Bereits 1753 wurde von C. F. Jampert im Großen Friedrichs-Waisenhaus eine auxologische Doktorarbeit angefertigt, die das Wachstum männlicher und weiblicher Kinder und Jugendlicher im Alter von 1 – 20 Jahren erfasste und nach J. M. Tanner, London (1981) als erste wissenschaftliche Erfassung des kindlichen Wachstums gilt.

Das erste wissenschaftlich begründete Werk der Kinder- heilkunde, eine Gegenüberstellung von Erkenntnissen der pathologischen Sektion und klinischen Beobachtungen und Befunden, stammt aus dem Jahre 1828 von Charles Michel Billard (1800 – 1832). Es trägt den Titel „Traité des maladies des enfants nouveaun`s et á la mamelle“ (Paris 1828).

Billard war Doktorand an dem 1802 in der Napoleonzeit gegründetem „Hôpital des enfants malades“ in Paris.

Pädiatrie im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Eine Sternstunde für die Entwicklung einer eigenständigen Kinderheilkunde in Deutschland stellte die 1829 erfolgte Einrichtung einer Kinderabteilung an der Berliner Charité dar, die zunächst von E. Wolff geleitet wurde. Die wissenschaftliche Ära der Berliner Kinderheilkunde begann mit E. Henoch, der das Direktorat der Klinik von 1872-1893 innehatte.

1884 wurde Hermann Widerhöfer (1832-1901) erster ordentlicher Professor für Kinderheilkunde in Wien. Den ersten deutschen Lehrstuhl erhielt Otto Heubner (1843-1926) zehn Jahres später am 27.12.1894 in Berlin.

Otto Heubner gab ein viel beachtetes Lehrbuch der Kinderheilkunde heraus und begründete eine pädiatrische Schule, ebenso wie sein Nachfolger Adalbert Czerny (1913-1932) und Meinhard von Pfaundler (1872-1947), der in München (1906-1939) arbeitete und seine Ausbildung unter Theodor Escherich (1857-1911) in Graz begonnen hatte. Von Pfaundler betonte stets, dass die Kinderheilkunde alle beim Kind vorkommenden Erkrankungen umfasst (Oehme 1993, S.67). Er war Generalist.

Als Heubnerschüler seien aufgeführt: H. Finkelstein, L. Langstein, E. Müller (Berlin), C.T. Noeggerath (Freiburg), H.Rietschel (Würzburg), B. Salge (Bonn), W. Stoeltzner (Königstein, Berlin)

Czernyschüler waren: A. Keller, H. Kleinschmidt (Göttingen), A. Peiper (Leipzig), H. Opitz (Heidelberg), K. Stolte (Breslau, Rostock).

Als besonders bekannte Pfaundlerschüler sind zu nennen: B. deRudder (Frankfurt/M), E. Moro (Heidelberg), H. Mai (Münster). O. Ullrich (Rostock, Bonn), A. Wiskott (München)

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden in Deutschland meist kleinere Kinderkliniken unter der Trägerschaft von Wohltätigkeitsvereinen (Hesse et al 2005).

Die Herausbildung der Industriegesellschaft mit ihrer Bevölkerungskonzentration und dem Bedarf an Arbeitskräften forderten die Gründung vieler Kinderkliniken am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Kinderheilkunde und Kinderchirurgie waren dabei zum Teil wie zum Beispiel im 1890 eröffneten Kaiser und Kaiserin Friedrichshospital in Berlin- Wedding unter einem Dach (Hesse et al 2005). Arthur Schloß- mann begründete bereits 1898 in Dresden die erste private, auf Säuglinge spezialisierte Klinik. Es war die erste Klinik bzw. das erste Säuglingsheim, das Säuglings- und Kinderkranken- schwestern ausbildete.

Von besonderer Bedeutung für die Senkung der Säuglingssterblichkeit wurde das 1909 in Berlin-Charlottenburg eröffnete „Kaiserin Auguste Victoria Haus zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit im Deutschen Reich“. Erster Direktor war der Czernyschüler Arthur Keller, ihm folge der Heubnerschüler Leo Langstein.

Gegen Ende des Ersten Weltkrieges und in der jungen Weimarer Republik entstanden zahlreiche neue Kinderkliniken. Es wurden in dieser Zeit auch eine Reihe pädiatrischer Lehrstühle neu geschaffen. An 14 der 19 deutschen Universitäten wurden zwischen 1919 und 1921 erstmals Ordinariate für Kinderheilkunde an den medizinischen Fakultäten eingerichtet. Pädiatrie wurde 1918 zum Prüfungsfach.

Die Kinderkrankenschwester- und Krankenpflegerausbildung wurde institutionalisiert. Am 31. März 1917 wurden Vorschriften über die staatliche Prüfung von Säuglingspflegerinnen in Preußen erlassen.

Dies war ein Höhepunkt des mühsamen Kampfes der Kinderärzte um Schaffung eines eigenen anerkannten Fachgebietes.

In diesem Zusammenhang seien auch die Bemühungen von Florence Nightingale (1820 – 1910) um die Etablierung der Krankenpflege als öffentlich anerkannten Beruf erwähnt.

Kinderheilkunde in der Weimarer Republik
und im „ Dritten Reich“

Die Zeit bis zum ersten Weltkrieg kann, grob vereinfacht, als die Periode der wissenschaftlichen Konsolidierung der deutschen Kinderheilkunde und die Zeit bis 1933 als Epoche der öffentlichen Anerkennung des Fachgebietes bezeichnet werden (Seidler, 1983, 40).

Die Menschenverluste des ersten und zweiten Weltkrieges ließen die Bedeutung der Kinderheilkunde in einem neuen Licht erscheinen. Zahlreiche Fortschritte der Medizin beflügelten fachlich auch die Versorgung kranker Kinder.

Gezielte Präventionsmaßnahmen zur Zurückdrängung von Infektionskrankheiten wurden erfolgreich durchgeführt. Prophy- laxemaßnahmen wie die Rachitisprophylaxe erreichten flächen- deckende Wirkung. Die Diphtherie wurde durch Antiserumgabe heilbar. Die Entdeckung der Sulfonamide, des Penicillins und des Streptomycins führten zu eindrucksvollen Heilungserfolgen.

Die Beschäftigung mit der „Seele des Kindes“ nahm zu. Eine erste Schrift hierzu hatte 1882 der Jenenser Psychologe William Therry Preyer publiziert. Ihm folgten Schriften von Sigmund Freund zur Psychoanalyse (Fall des kleinen Hans) und die Schrift A. Czernys „Der Arzt als Erzieher des Kindes“ sowie weitere Schriften.

 

Verfolgung von jüdischen Kinderärzten

Die Naziherrschaft traf die Pädiatrie schwer. Jüdische Pädiater, die etwa 50 % aller Pädiater ausmachten, erhielten Berufsverbot, wurden vertrieben oder kamen in Lagern um.

Details können aus der Schrift von Eduard Seidler „Kinderärzte 1933 – 1945“, 2007, entnommen werden. Selbst der berühmte Berliner Pädiater Heinrich Finckelstein musste wie viele andere emigrieren. Er verstarb 1942 in Chile im Exil.

Die Meldepflicht für behinderte Kinder und das Euthanasieprogramm konterkarierten das humanistische Ansinnen der Pädiatrie. Am 14.07.1933 wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ veröffentlicht. Am 18.08.1939 folgte die: „Meldepflicht missgebildeter Kinder bis zu drei Jahren für Ärzte und Hebammen“.

Zu einem Heiligen des 20. Jahrhunderts wurde der polnische Kinderarzt, Pädagoge und Schriftsteller Janusz Korczak der, obwohl er mehrfach Gelegenheit zur eigenen Rettung aus dem Warschauer Getto hatte, mit den ihm anvertrauten Kindern in die Gaskammern von Treblinka ging (vergl. Hesse 1999).

Die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin hat 1998 eine Erklärung zu den im “3. Reich“ verfolgten Kinderärzten abgegeben und anlässlich der Potsdamer Jahrestagung der Gesellschaft 2010 eine bewegende Ausstellung zur Kindereuthanasie gestaltet.

Die Nachkriegszeit

Während des Verlaufs des Krieges und besonders zu Kriegsende wurden viele Kinderkliniken in Deutschland zerstört.

Wieder war es eine Pioniergeneration, die Pioniergenera- tion der Nachkriegszeit, die eine moderne und umfassende Pädiatrie in Deutschland aus den Ruinen entstehen ließ.

Enorme wissenschaftlich und technische Leistungen führten in den vergangenen Jahrzehnten zu einer immer geringer werdenden kindlichen Mortalität. Die Heilungschancen von Krebserkrankungen stiegen, Impfprogramme führten nahezu zum Verschwinden aller klassischen Kinderkrankheiten wie Diphtherie, Masern, Poliomyelitis, Mumps und anderer Infek- tionserkrankungen. Die Fortschritte der Neonatologie ermöglichten die Betreuung immer kleinerer Neugeborener und eine Senkung der Säuglingssterblichkeit – sie erreichte Werte von 3,8 Promille (Wauer, Schmalich 2008).

Moderne diagnostische Möglichkeiten wie die Fortschritte der bildgebenden Diagnostik durch Sonografie, Computertomografie und MRT sowie eine schnellere und spezifischere Erregerdiagnostik, durch neue Labormethoden wie PCR und hochwirksame neue Medikamente führten zur Verkürzung der Verweildauer im Krankenhaus.

Neue Therapieformen wie die Enzymtherapie von lysosomalen Stoffwechselkrankheiten wurden eingeführt; die an Mucoviscidose erkrankten Patienten, die früher im Kindesalter verstarben, erreichen heute das Erwachsenenalter. Die Transplantationschirurgie hat auch das Kindes – und Jugendalter erobert, die Molekulargenetik klärt zunehmend die Ätiologie von Erkrankungen, die biogenetische Produktion von Arzneimitteln wie Insulin und Wachstumshormonen wurden Wirklichkeit. Zahlreiche Fortschritte sind der Stammzellforschung, der Wachstumsfaktorenforschung und neuen Kenntnissen der Immunologie zu verdanken.

Die Eltern eroberten das Krankenhaus, das Rooming-in wurde Normalität. Heute begleiten ein Großteil der Eltern ihre Kinder ins Krankenhaus.

Die Spezialisierung unter dem Dach der Pädiatrie führten zu besonderen Erfolgen, genannt seien z. B. die Fortschritte in der pädiatrischen Kardiologie, Intensivmedizin, Neonatologie, Nephrologie,Onkologie und Endokrinologie. Es gelang für das kranke Kind im Krankenhaus eine umfassende Gesamtbetreuung, die auch psychologischen Beistand mit beinhaltete, aufzubauen. Heute steht ein flächendeckendes Netz pädiatrischer und kinderchirurgischer Einrichtungen in Deutschland zur Verfügung.

Das Krankenhausspektrum der modernen Pädiatrie hat sich gewandelt. Quantitativ stehen die sogenannten neuen Kinder- krankheiten, wie exzessive Adipositas, die zum Teil mit dem Typ 2-Diabetes-mellitus, dem bisherigen Altersdiabetes einhergeht, die Zunahme der Allergien und die Verhaltens- und Essstörungen im Vordergrund. Noch immer aber stehen kindliche Unfälle und Vergiftungen bei den Todesursachen an vorderster Stelle. Sorgen bereiten Vergiftungen durch Alkopops, Drogen und das über- mäßige und zu frühe Rauchen bei Jugendlichen, besonders bei Mädchen.

Am 28.2.1991 traten die Mitglieder der 1967 in der DDR gegründete Gesellschaft für Pädiatrie, der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde bei. Damit war die in der Nachkriegszeit erfolgte Trennung der deutschen Kinderheilkunde aufgehoben (Ballowitz 1994, Hesse 2008).

Pädiatrie aktuell

Die derzeitige Situation der stationären Pädiatrie ist von den Sorgen um die Benachteiligung der Kinderheilkunde gekennzeichnet. Die Vereinigung leitender Kinderärzte-und Kinderchirurgen Deutschlands (VLKKD) hat z. B. 2006 eine anonyme Umfrage zur Situation der deutschen Kinderklinik durchgeführt, um einen eigenen Überblick unter den DRG- Finanzierungsbedingungen zu erhalten.

Es hatten sich bis zum Auswertungszeitpunkt 188 Kinder- und Jugendkliniken und 12 kinderchirurgische Abteilungen und Kliniken beteiligt, darunter 109 Einrichtungen in den alten und 59 Einrichtungen aus den neuen Bundesländern. Mitgewirkt haben auch 15 der 32 Universitätskinderkliniken.

Folgende orientierende Hauptaussagen könnten getroffen werden:

Der Anteil privater Trägerschaften erhöht sich, er betrug bereits 21 % im Verhältnis zu Stadt-und Kommunal-Trägerschaften mit 27 %.

50 % der Kinder- und Jugendabteilungen in den neuen Bundesländern, aber nur 6 % in den alten Bundesländern, hatten eine Bettenanzahl von unter 30 Betten.

Weniger als 1.500 Patienten pro Jahr wurden von 52 % der Kliniken in den neuen Bundesländern, aber nur von 7 % der Klinken und Abteilungen in den alten Bundesländern betreut. Die Zahl der stationär behandelten Fälle war angestiegen.

Bei insgesamt 49 % der Einrichtungen war es bereits zu Personalreduktionen gekommen, davon betrafen 22 % den Arzt- und 42 % den Pflegedienstbereich.

Die Zahl der Fälle pro Arzt war 2006 gegenüber 2001 von 176 auf 192 angestiegen, damit war der Belastungsgrad der Ärzte eindeutig größer geworden (Hesse, Kölfen, Ketteler 2007).

 

Kinder sind keine kleinen Erwachsenen

Die Versorgung von Kindern in Kinderkliniken mit ent- sprechenden Qualitätsstandards darf auch bei weiteren Verkürzung der Verweildauer nicht gefährdet werden, auch wenn Umstrukturierungen in mehreren Bundesländern zum Teil erforderlich sind.

Am Ende seines Lebens sagte Adalbert Czerny in seiner Schrift „Die Pädiatrie meiner Zeit“ nachdenklich: „Das Verlangen nach einer Pädiatrie stellte sich stets ein, wenn zwischen Sterblichkeit und Zuwachs ein Missverhältnis entstand“.

Wir haben heute wieder so ein Missverhältnis und müssen für die Zukunft denken. Heute sterben in Deutschland mehr Menschen als geboren werden.

Die zurzeit geringer werdenden Geburtenzahlen weisen darauf hin, dass Kinder immer kostbarer für die Gesellschaft werden und die Sorge um das Wohl eines Kindes in einem noch größerem Umfang ein gesamtgesellschaftliches Anliegens werden muss.

Diese Aussage dient nicht dem pädiatrischen Eigennutz, sondern ist ein Hinweis auf die Sicherung der Zukunftschancen unseres Landes.

Zukunft der Pädiatrie

Die Zahl der Kinder in Deutschland geht zurück. Kleine Kinderkliniken müssen, um den Standard zu halten, Verbünde bilden.

Einzelpraxen werden zurückgedrängt, Gemeinschafts- praxen ermöglichen häufig eine größere fachliche Spezialisierung.

Die integrierte Versorgung unter Mitwirkung von Klinik und niedergelassenen Ärzte wird eine größere Rolle spielen.

Nicht alle Kliniken können alles machen. Eine Regulation durch ausgewogene Qualitätsstandards (Beispiele Neonatologie/Onkologie) ist erforderlich.

Wichtig ist es Qualitätsstandards in der Kinderheilkunde vorhalten, um auch für die Zukunft abzusichern, dass Kinder und Jugendliche in qualifizierte Kinder- und Jugendkliniken und nicht in Erwachsenenkliniken betreut werden.

Eines ist jedoch sicher, die Kinderheilkunde hat eine elementare urwüchsige Kraft, da sie von Notwendigkeit und hoher Motivation getragen ist. Sie wird sich auch weiterhin behaupten.

Unsere aktuelle Forderung ist es aber bereits präventiv Schaden von ihr abhalten.

 

Ausgewählte Literatur:

  1. Ballowitz, L.(Hrsg.): Zur Geschichte der Gesellschaft für Pädiatrie der DDR.Monatsschr. Kinderheilkd.142 (1994)
  2. Billard C. M.: Traité des maladies des enfants nouveaun`s et á la mamelle“ Paris 1828.
  3. Bókay,J.von:GeschichtederKinderheilkunde.SpringerBerlin1922
  4. Chirurgische Bibliothek (A. G. Richter Hrsg.) Dieterisch, Göttingen und Gotha,1771-1797
  5. Czerny,A.: DiePädiatrie meiner Zeit.Berlin1939
  6. Czerny,A.: Der Arzt als Erzieher des Kindes. Deuticke Leipzig, Wien 1919
  7. Escherich, T.: Grundlagen und Ziele der modernen Pädiatrie um die Jahrhundertwende. Vortrag auf der Weltausstellung in St. Louis im September 1904. In: Der gegenwärtige Stand der Kinderheilkunde und ihre Beziehungen zu den angrenzenden Wissenschaften (T. Escherich und A. Jacobi Hrsg). Berlin 1905
  8. Frank, J.P.: Biographie des Johann Peter Frank von ihm selbst geschrieben. Wien 1802
  9. Frank, J.P.: System einer vollständigen medizinischen Polizei. Schwan und Götz, Mannheim (1804)
  10. Gerhard, C.: Handbuch der Kinderheilkunde , 6 Bände . Tübingen 1877-1896
  11. Gerhard, C.: Die Aufgaben und Ziele der Kinderheilkunde. Dt. Med. Wschr. 5 (1879), 214-218
  12. Hellbrügge,Th.(Hrsg.). Gründer und Grundlagen der Kinderheilkunde. Hansisches Verlagskontor Lübeck. 1979
  13. Hesse, V.: Reformpädagogik zu Beginn des 20.Jahrhunderts – Janus Korczak und Karl Wilker. Kinderärztliche Praxis (1999)1,47-51
  14. Hesse, V.: 300 Jahre stationäre Kinderheilkunde-eine Festschrift. Verbum Berlin, 2005
  15. Hesse, V., Lennert, T., Voß, U., Lüder, S.: Posterzyklus zur Geschichte der Kinderheilkunde in Berlin. In: V. Hesse: 300 Jahre stationäre Kinderheilkunde. Verbum Berlin. 2005,138-148
  16. Hesse, V.: Aspekte der Geschichte der „Gesellschaft für Pädiatrie der DDR“ in: 125 Jahre Deutsche Gesellschaft für Kinder-und Jugendmedizin e.V. (Hrsg: E. Fukala, V. Hesse, T. Lennert, E. Seidler, T. Beddies, G. Lilienthal, H. Wegmann) Heenemann, Berlin 2008, 91-105
  17. Hesse, V., Kölfen, W., Ketteler, J.: Orientierende Analyse der Situation der deutschen Kinderkliniken und Kinderabteilungen. Monatsschr. Kinderheilkd.155 , 2007,93-95
  18. Heubner, O.: Zur Geschichte der Säuglingsheilkunde. Festschrift zur Eröffnung des Kaiserin Auguste Victoria Hauses. Berlin 1929
  19. Hufeland, C. W.: „Von den Krankheiten der Ungeborenen und der Vorsorge für das Leben und die Gesundheit vor der Geburt“. Journ. pract. Heilk. 64/1 Berlin 1827,7-46
  20. Jacobi, A.: Zur Geschichte der Pädiatrie und ihre Beziehungen zu den anderen Künsten und Wissenschaften. In: Escherich und Jacobi, Berlin 1905
  21. Niebsch , G. Grosch, C. Bossdorf, U. Graehn-Baumann, G.: Gesundheit, Entwicklung und Erziehung in der frühen Kindheit. Wissenschaft und Praxis der Kinderbetreuung in der DDR. P. Lang, Frankfurt/M (2007).
  22. Oehme, J.: Pioniere der Kinderheilkunde. Hansisches Verlagskontor Lübeck (1993)
  23. Peiper, A.: Chronik der Kinderheilkunde. 5. Aufl. Leipzig 1992
  24. Schaffer, R.J., Arvey, M.E.: Diseases of the newborn, Saunders, Philadelphia, London, Toronto 1960
  25. Seidler, E.: Die Kinderheilkunde in Deutschland. In: P. Schweier, E. Seidler (Hrsg.) Lebendige Pädiatrie. München (1983)13-85
  26. Seidler, E.: Jüdische Kinderärzte 1933-1945. Entrechtet, Geflohen, Ermordet. 2. Aufl. Basel, Freiburg, Paris, London, New York, Bangalore, Bangkok, Singapore, Tokyo, Sydney (2007)
  27. Seidler, E.: “..die glückliche Spezialität der Kinderheilkunde“ in: 125 Jahre Deutsche Gesellschaft für Kinder-und Jugendmedizin e. V. (Hrsg: E. Fukala, V. Hesse, T. Lennert, E. Seidler, T. Beddies, G. Lilienthal, H. Wegmann). Heenemann Berlin 2008,17-35
  28. Störck, A. v.: „Medizinisch-praktischer Unterricht für die Feld- und Landwundärzte des österreichischen Staates“, Bd. 1-2, Wien 1776
  29. Steffen, A.: Über den heutigen Stand der Kinderheilkunde. In: Jahrb. f. Kinderheilkunde 3. (1870) 1-6
  30. Storch, J.: Theoretische und praktische Abhandlung von Kinderkrankheiten, Grießbach, Eisenach 1750/1751
  31. Tanner, J.M.: A history of the study of human growth. Cambridge Univ. Press Cambridge 1981
  32. Wauer, R., Schmalisch, G.: Die Entwicklung der Kinder-Säuglings-und Neugeborenensterblichkeit in Deutschland seit Gründung der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde. In: 125 Jahre Deutsche Gesellschaft für Kinder-und Jugendmedizin e.V. (Hrsg: E. Fukala, V. Hesse, T. Lennert, E. Seidler, T. Beddies, G. Lilienthal, H. Wegmann) Heenemann Berlin 2008, 133-141
  33. Windorfer, A., Schlenk, R.: Die deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde. Ihre Entstehung und historische Entwicklung. Berlin, Heidelberg, New York (1978)
  34. Zwinger, T.: Paedojatreja practica, Basel 1722

 

Anmerkung:

Der Beitrag entspricht einem Vortrag, der anlässlich des 10. Interdisziplinären SGA Workshops (Intrauterine Wachstumsrestriktion) am 29.6.2012 auf dem Jakobsberg in Boppard am Rhein gehalten wurde.
Erschienen ist der Vortrag im:
“Proceedingband 2012 10. Interdisziplinärer SGA Workshop“ (Hrsg. S. Zabransky)
Medizinischer–Verlag Siegfried Zabransky 2012, S.9-26., ISBN 978-3-943113-02-0

 

Verfasser:

Prof.Dr.med.Volker Hesse

Deutsches Zentrum für Wachstum, Entwicklung und Gesundheitsförderung im Kindes-und Jugendalter
(DeuZ-W.E.G. Berlin )

c/o: Ostring 1, Charité-Universitätsmedizin, Campus Virchow Klinikum (CVK), Augustenburgerplatz 1, 13353 Berlin