(5) Die Anfänge der Kinderheilkunde in Berlin 

Kaiserin Auguste Victoria Haus (KAVH) zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit im Deutschen Reiche

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Abb. 1: Zeichnung des Kaiserin Auguste Viktoria Haus, nach alten Abbildungen gezeichnet von Nigel Leach 1990

Das Kaiserin Auguste Victoria Haus zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit im Deutschen Reiche wurde 1909 in Charlottenburg im Beisein der Kaiserin nach nur eineinhalb-jähriger Bauzeit als repräsentativer „Säuglingspalast“eröffnet.

Ausgehend von einer Idee Ph. Biederts, Chef des Medizinalwesens in Elsaß-Lothringen, der 1899 eine Versuchsanstalt zur Erprobung der Säuglingsernährung gefordert hatte, modifizierten auf Wunsch der Kaiserin Otto Heubner, Ordinarius für Kinderheilkunde an der Charité, und E. Dietrich, Geheimer Obermedizinalrat im Preussischen Kultusministerium, den Plan und entwarfen eine Einrichtung, die nicht nur die Ernährung, sondern auch die übrige Physiologie des Säuglings erforschen sollte. Der Czernyschüler A. Keller aus Magdeburg, der schon seit 1906 an der Planung beteiligt war, wurde von Ministerialdirektor F. Althoff zum Direktor der Anstalt bestimmt, der Heubnerschüler Leo Langstein wurde sein Vertreter. Das Haus enthielt eine Entbindungsabteilung mit Schwangeren- und Mütterheim sowie Stationen für Neugeborene, Frühgeborene, gesunde Pflegekinder und kranke Kinder. Für die Erzeugung von besonders hygienischer Milch diente ein eigener Kuhstall, daneben standen dem Haus lange Zeit auch Ammen zur Verfügung. Dazu gab es umfangreiche Laboratorien.

Bald nach der Eröffnung kam noch das sog. „Organisationsamt“ hinzu, das von F. Rott geleitet wurde und der Verbreitung von Schulungs- und Aufklärungsmaterial für Schwestern, Eltern, Fürsorger und Behörden diente und auch eigene Kurse abhielt. Es wurde ein Wegbereiter der Sozialpädiatrie in Deutschland. 1934 wurde es von den Nationalsozialisten aufgelöst und durch eine Poliklinik für Erb- und Rassenpflege ersetzt, die vorübergehend von O. von Verschuer geleitet wurde, bis er einen Ruf nach Frankfurt erhielt. Diese Poliklinik unterstand nicht der Klinikleitung, sondern direkt staatlichen Stellen. Sie wurde 1943 aufgelöst.

Von 1948 bis 1995 diente die Klinik der Freien Universität als Kinderklinik und Poliklinik, danach wurde sie mit der Kinderklinik Wedding vereinigt und Teil des neuen Universitätsklinikums Rudolf Virchow, das später der Humboldt-Universität zugeordnet und mit der Kinderklinik der Charité vereinigt wurde.

 

Die Direktoren des Kaiserin Auguste Viktoria Haus 1909 – 1996

1 – Arthur Keller (1868 – 1934)

Geboren in Schwiebus. Nach Studium in Breslau, Halle, Marburg und Leipzig dort Promotion 1886. Ausbildung zum Kinderarzt unter Czerny in Breslau, dort 1904 Habilitation. Danach Leitung der Städt. Kinderklinik Magdeburg, wo er 1907 den Ruf an das KAVH erhielt, zusammen mit dem Professorentitel.

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Abb. 2: Arthur Keller  (1986-1934)

Sein Gebiet war zunächst die Stoffwechselphysiologie und Ernährung des Säuglings. Mit Czerny Autor des Buches: „Des Kindes Ernährung, Ernährungsstörungen und Ernährungstherapie“. Nach Ausscheiden aus dem KAVH (nach Auseinandersetzungen) 1911, ließ er sich zunächst als Kinderarzt in Berlin nieder. Später wurde er Schularzt und gründete eine Erziehungsberatung für geistig abnorme und schwer erziehbare Kinder.

1903 Mitbegründer der „Monatsschrift für Kinderheilkunde“. Er war Wegbereiter der Kinderpsychiatrie in Deutschland.

 

2 – Leo (pold) Langstein (1876 – 1933)

Geboren in Wien, Studium der Medizin und Chemie dort und in Heidelberg, Dr.med. 1899. 1900 –1902 Straßburg bei Hofmeister (physiol. Chemie ) und Siegert (Pädiatrie). 1902 Dr. phil. Weitere pädiatrische Ausbildung bei Czerny in Breslau, ab 1904 Assistent bei Heubner, 1908 Habilitation. Ab 1909 Oberarzt und stellvertretender Direktor am KAVH, ab 1911 bis 1933 Direktor. Langstein war jüdischer Abstammung, trat aber zum Protestantismus über. 1933 plötzlicher Tod (Selbstmord?).

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Abb. 3: Leo(pold) Langstein (1876 – 1933)

Zunächst Publikationen zu physiologisch-chemischen Themen (Ernährung und Ernährungsstörungen, Rachitis), dann aber zunehmend zum Gebiet des Säuglings- und Kinderschutzes, Stillen, Wohlfahrtspflege . Herausgeber von 7 pädiatrischen und wohlfahrtspflegerischen Zeitschriften. 1919 (mit Rott) “Atlas der Hygiene des Säuglings und des Kleinkindes”. Arbeiten zu Säuglingen heroinabhängiger Mütter, Diabetes, Adipositas. 1920 (mit Göppert) “Prophylaxe und Therapie der Kinderkrankheiten”. Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde, Gründer der Berliner Gesellschaft für Kinderheilkunde, Gründer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und der Deutschen Liga der freien Wohlfahrtspflege, Mitglied des Reichsgesundheitsrates und des Preußischen Landesgesundheitsrates, Präsidiumsmitglied des deutschen Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuberkulose. Sein unermüdliches Engagement für sozialpädiatrische Belange fand ein jähes Ende nach Beginn des Nationalsozialismus, der auch seinen zahlreichen jüdischen Mitarbeitern die Grundlage der Arbeit entzog und sie in die Emigration trieb.

 

3 – Fritz Rott (1878 – 1959)

Geboren in Gleiwitz, Studium der Mathematik (2 Sem.) und Medizin in Halle. 1905/1906 kinderärztliche Ausbildung am einem Kinderasyl in Berlin, danach ab 1906 bei Heubner an der Charité.Ab 1911 als Oberarzt ans KAVH, beauftragt mit dem Aufbau des „Organisationsamtes“ (s.o.), ab 1922 als gleichberechtigter Direktor neben Langstein. 1928 Habilitation bei Alfred Grotjahn. 1934 Entlassung durch die Nazis, gleichzeitig Auflösung des Organisationsamtes. Er wechselt ins Reichsgesundheitsamt. 1943 geht er nach Baden-Baden, von wo er weiter bis 1945 für das Reichsgesundheitsamt arbeitet.

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Abb. 4: Fritz Rott (1878 – 1959)

Umfangreiche sozialpädiatrische Veröffentlichungen, Hat den Begriff der „Frühsterblichkeit“ der Säuglinge geschaffen. Mitherausgeber des „Atlas der Hygiene des Säuglings und des Kleinkindes“. Herausgeber vieler sozialfürsorgerischer Schriften.

Fritz Rott ist einer der Väter der deutschen Sozialpädiatrie. Er hat den Gedanken der Fürsorge in die praktische Pädiatrie eingeführt und organisatorisch verankert. Sein Versuch, die sozialpolitischen Erfolge der Weimarer Republik in das „Dritte Reich“ hinüberzuretten, war nicht immer erfolgreich.

 

4 – Paul Reyher (1876 – 1934)

Geboren in Halle, Studium der Medizin in Berlin und Marburg, Dr. med. 1901 in Leipzig. 1902 – 1910 Assistent bei Heubner. 1910 Habilitation. 1920 – 1933 Chefarzt des Säuglingskrankenhauses Weißensee. War gewählt als Nachfolger Langsteins am KAVH, hat das Amt aber nicht angetreten, da ihm die Organisationsstruktur des Hauses zu wenig „nationalsozialistischen Grundsätzen“ entsprach. (Er akzeptierte Rott nicht als gleichberechtigten Direktor). Er war dann für einige Monate bis zu seinem frühen Tod 1934 Direktor des Kaiser- und Kaiserin-Friedrich-Kinderkrankenhauses in Wedding als Nachfolger Finkelsteins bzw. als Ersatz für den gerade gewählten L.F. Meyer, der emigrieren mußte. Reyher bekannte sich schon in den 20er Jahren zum Nationalsozialismus, er war „der erste Hochschulprofessor, der sich offen zu unserem Führer bekannte“ (Bunz, 1934). Er beschäftigte sich mit Diätetik in der Pädiatrie, war Mit-Herausgeber der „Zeitschrift für Ernährung“.Er war einer der ersten, die die Röntgentechnik in die Pädiatrie einführten, („Das Röntgenverfahren in der Kinderheilkunde“, Berlin, 1912). Langstein hat ihn fachlich geschätzt und sich mit ihm seit der Zeit bei Heubner geduzt. Sein früher Tod hat ihn wohl daran gehindert, einer der Protagonisten einer nationalsozialistischen Pädiatrie zu werden. Bis zum Kriegsende trug die Kinderklinik Weißensee seinen Namen.

 

5 – Otto Ullrich (1894 – 1957)

Von Januar bis Juni 1934 war Otto Ullrich Direktor des KAVH. Geboren in Werdau/Sachsen. Pädiatrische Ausbildung in München (Pfaundler), dort 1929 Habilitation. 1934 a.o. Prof.. Zögernd nahm er den Ruf ans KAVH an, verließ es aber bald wieder, weil ihm die neue Struktur und die politisierte Atmosphäre nicht zusagten.

Er folgte einem Ruf an die Kinderklinik in Essen. 1939 wurde er Ordinarius in Rostock und schließlich 1943 in Bonn.

Bekannt wurde er durch die Beschreibung des Ullrich-Turner-Syndroms.

 

6 – Georg Bessau (1884 – 1944)

Georg Bessau hat das KAVH neben der Kinderklinik der Charitè von 1934 – 1938 geleitet.

Biographische Einzelheiten siehe Teil 3

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Abb. 6: Georg Bessau (1884 – 1944)

 

7 – Kurt Hofmeier (1896 – 1989)

Geboren in Königsberg, Studium der Medizin in Marburg, Freiburg und Würzburg, 1922 Promotion. Pädiatrische Ausbildung an der Kinderklinik Würzburg und bei Bessau in Leipzig. Danach bis 1934 niedergelassener Kinderarzt in Berlin. 1934 – 1938 Leitung des Städt. Kinderkrankenhauses Charlottenburg, 1938 Habilitation bei Bessau, danach Direktor des KAVH, 1941 – 1944 Direktor der Kinderklinik der „Reichsuniversität“ Straßburg. Nach Kriegsende niedergelassener Kinderarzt mit Professur an der Universität Tübingen.

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Abb. 7: Kurt Hofmeier (1896 – 1989)

Arbeiten über Infektionskrankheiten, Erb- und Konstitutionsfragen, körperliche Ertüchtigung und Prophylaxe (Vit. D).

Hofmeier hat in seiner Laufbahn sehr von den Nationalsozialisten profitiert, denen er sich zugehörig fühlte. Er gehörte zu der kleinen Gruppe deutscher Pädiater, die lautstark die Übernahme nationalsozialistischer Prinzipien in die Kinderheilkunde forderten.

 

8 – Gerhard Joppich (1903 – 1992)

Geboren in Nieder-Hermsdorf / Schlesien. Studium der Medizin in Berlin, Würzburg, München, Graz und Breslau, dort 1930 Promotion. 1930/31 Innere Medizin und Mikrobiologie. Ab 1932 Pädiatrie bei Kleinschmidt, Köln. Dort 1936 Habilitation. 1939-1942 Truppenarzt. 1942 – 1954 Direktor des KAVH, seit 1948 als Ordinarius der FU. 1954 – 1973 Direktor der Univ.-Kinderklinik Göttingen.

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Abb. 9: Gerhard Joppich (1903 – 1992)

Schwerpunkt Infektionskrankheiten (Polio und Tuberkulose), Impffragen. Körperliche Ertüchtigung, Abhärtung. Ernährungsprobleme bei Kindern nach dem Krieg. Joppich war ein besonders sozial engagierter Kinderarzt, der sich um die Bekämpfung v. a. der Polioepidemien große, international sehr anerkannte Verdienste erworben hat.(pädiatrische Ehrenmitglied-schaften in Finnland, Chile, Venezuela. neben der Ehrenmitgliedschaft der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde). Er war Mitglied des Wissenschaftsrates und in zahlreichen Verbänden und Gremien zur Infektionsbekämpfung und Vorsorge aktiv, des weiteren Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher – Leopoldina. Am KAVH hat er sich große Verdienste erworben um die Rettung und Erhaltung der Klinik in den Kriegs- und Nachkriegswirren. Sein ihm gelegentlich noch vorgehaltenes Engagement als Arzt der Hitlerjugend dürfte eher seiner jugendbewegten Vergangenheit als einer politischen Überzeugung zuzuordnen sein.

 

9 – Adalbert Loeschke   (1903 – 1970)

Geboren in Angermünde. Studium der Medizin in Tübingen und Berlin. 1928 Promotion zum Dr.med. 1928-30 Physiol. Chemie in Leipzig, 1930-32 Pädiatrie in Göttingen (Beumer), 1932-41 in Köln (Kleinschmidt), dort 1936 Habilitation.1939-41 Truppenarzt, 1941- 45 kommissarischer Leiter der Kinderklinik in Litzmannstadt / Lodz.. 1945-1954 Kinderarzt in Darmstadt. 1954-70 Direktor des KAVH und Ordinarius für Kinderheilkunde an der FU.

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Abb. 10: Adalbert Loeschke (1903 – 1970)

Glykogen-Speicherkrankheiten, Chemotherapie der Säuglingsdyspepsie, Infektionsprophylaxe auf Neugeborenenabteilungen, Niere und Wachstum, Therapie mit Wachstumshormon, aber auch Schutz von Kindern vor Gewalttätigkeiten, kindgerechte Architektur. Lehrbuch für Kinderpflege. Mit Klose: “Lehrbuch der Kinderheilkunde”.

1966 Vorsitzender der Deutsch. Ges. für Kinderheilkunde und Kongreßpräsident in Berlin.

Mitglied der Leopoldina. Ehrenmitgliedschaften in Chile, Japan, Türkei und Österreich, sowie der Deutschen Gesellschaft. Starkes Engagement in der Verbesserung der studentischen Lehre. Beginn einer Departmentbildung an seiner Klinik.

 

11 – Hans Helge (1930-2015)

Geboren in Wuppertal. Medizinstudium in Frankfurt/Main und Berlin (FU). 1956 Dr.med., 1956-58 Pathologie Berlin und Kiel (Doerr), ab 1958 Pädiatrie in Berlin (Loeschke), 1961/63 Baltimore (John Hopkins) und Miami. 1968 Habilitation Berlin.. 1968-1972 Oberarzt Heidelberg (Bickel). 1972–1996 Direktor des KAVH und Ordinarius für Kinderheilkunde an der FU Berlin.

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Abb. 11: Hans Helge (geb. 1930)

Schwerpunkt: Pädiatrische Endokrinologie, Wachstumsprobleme, Pharmakologie der Embryonalphase, Stoffwechseldiagnostik mit stabilen Isotopen. Als Direktor des KAVH ist es Helge gelungen, die Spezialisierung der Pädiatrie mit der Errichtung selbständiger Abteilungen zu fördern, und dennoch den Zusammenhalt des gesamten Fachs zu gewährleisten. Er hat alte Traditionen des KAVH wieder belebt, in dem er einen externen Pflegedienst durch Kinderschwestern modellhaft etablierte. Überaus engagiert hat er sich nach der politischen Wende durch Kontaktaufnahme und Hilfestellung nicht nur in den neuen Bundesländern, sondern im gesamten Ostblock (z.B. Kooperation mit russischen Kliniken). Ebenso aktiv hat er sich in der Dritten Welt engagiert und tropenpädiatrische Aktivitäten seiner Mitarbeiter gefördert.

 

Quelle: Poster-Zusammenstellung Th. Lennert, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Charité-Universitätsmedizin, Campus Benjamin Franklin; Design: St. Lüder, U. Voß, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin „Lindenhof“ Berlin, Akad. Lehrkrankenhaus der Charité-Universitätsmedizin. Bearbeitet C. Bader.