(2) Die Anfänge der Kinderheilkunde in Berlin 

300 Jahre stationäre Betreuung von Kindern – von der Krankenstube des Großen Friedrichs-Hospitals zur Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Lindenhof in Berlin-Lichtenberg (1702-2002)

Das Große Friedrichs-Hospital und -Waisenhaus

Das Große Friedrichs-Hospital und -Waisenhaus, 1702 eröffnet, gelegen an der Spree nahe dem Stralauer Tor im heutigen Stadtbezirk Berlin-Mitte. Stifter dieses großes Armenhauses war der erste König in Preußen, Friedrich I.
Von Beginn an wurden die Kranken, vor allem Kinder, täglich von einem „medicus“ und einem „chirurgus“ in besonderen Krankenstuben behandelt und kostenlos mit Arznei aus der Königlichen Hofapotheke versorgt. Die ersten Ärzte vor Ort waren die Stadtphysici Dr. Schmidt und Dr. Jägwitz.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kamen keine Erwachsenen mehr neu in das Friedrichs- Hospital, so dass es vollständig in ein Waisenhaus, das „Große Friedrichs-Waisenhaus“, umgewandelt wurde. 1701 hatten die ersten 98 Hauskinder im Großen Friedrichs-Hospital Aufnahme gefunden. 1737 erreichte ihre Zahl den höchsten Stand von 523. Unter den auf zu engem Raum lebenden Kindern grassierten Infektionskrankheiten. Als wirksame Maßnahmen der Infektionsprophylaxe bewährten sich die Einrichtung der Krätzstation 1808 sowie einer Quarantäne- und besonderen Badeanstalt 1804. Die herausragendste Maßnahme des Infektionsschutzes war die konsequente Durchführung der Kuhpockenschutzimpfung nach Edward Jenner bei allen ungeimpften Neuankömmlingen ab 1802, nachdem am Großen Friedrichs-Waisenhaus das erste „Königliche Schutzpocken-Impfungs-Institut“ der Stadt Berlin ins Leben gerufen worden war. Die Sterblichkeit bei den Hauskindern betrug bis 1818 14%; bis 1840 gelang es, die Mortalität auf 1,6-3,5% zu senken. Das Waisenhauslazarett verfügte zu dieser Zeit über 32 Betten.

1

Abb. 1: Das 1702 eröffnete Große Friedrichs-Hospital

Das Große Friedrichs-Waisenhaus der Stadt Berlin zu Rummelsburg

1859 erfolgte der Umzug vom Stralauer Tor an den Rummelsburger See. Die Gesundheitsfürsorge erlangte einen hohen Stellenwert. Sanitätsrat Dr. Bollert war wahrscheinlich der erste Anstaltsarzt mit hauptamtlicher Tätigkeit und Wohnung im Haupthaus der Anlage.
Das Lazarettgebäude beherbergte 4 Krankenstationen mit 80 Betten. 1887 wurde eine Krankenbaracke mit 32 Betten für akut kranke Haus- und Kostkinder (dem Haus angehörige Waisen in Familienpflege) neu errichtet.

5

Abb. 2: Grundriß des Städtischen Waisenhauses zu Rummelsburg

Unter Leitung von Dr. Erich Müller ab 1902 wurde die Kapazität des Kinderlazaretts bis 1910 auf 337 Betten erhöht. Weiterhin stellten epidemisch auftretende Infektionskrankheiten wie Typhus, Scharlach, Masern, Cholera und Diphtherie häufige Behandlungsdiagnosen dar und verursachten eine hohe Sterblichkeit besonders unter den Säuglingen. Durch Aufstellung einer Döckerschen Baracke 1910 zur Isolierung maserninfizierter Kinder, die Einführung des Boxensystems in der Krankenbaracke nach dem Vorbild Pariser Kinderspitäler u.a. Maßnahmen gelang es, Morbidität und Mortalität deutlich zu senken. Die Domäne der Behandlung in Rummelsburg waren Erkrankungen mit langwierigen Heilungsverläufen wie Lues connata, Tuberkulose, Rachitis u.a. durch Mangelernährung verursachte Krankheiten.

1925 wurde die Lazarettabteilung des Waisenhauses als städtische Krankenabteilung allgemein zugänglich gemacht.

Erich Georg Müller

Erich Müller – ein Pionier der deutschen Pädiatrie, geboren 1868 in Stanowitz (Oberschlesien), studierte in Heidelberg und Leipzig Medizin, promovierte 1893 und war in Leipzig bereits Schüler von Otto Heubner (erster deutscher Lehrstuhlinhaber für Pädiatrie ab 1894 in Berlin). Müller folgte Heubner nach Berlin und arbeitete zusammen mit H. Finkelstein als Assistent an der Kinderklinik und Kinderpoliklinik der Charité. 1902 wurde er zum Leitenden Arzt der Krankenabteilung des Waisenhauses der Stadt Berlin nach Rummelsburg berufen. 1911 erhielt er den Professortitel. 1932 überführte Müller das unter seiner fachlichen Leitung zu einem Kinderkrankenhaus entwickelte ehemalige Lazarett des Rummelsburger Waisenhauses in das Städtische Krankenhaus Berlin-Lichtenberg. Bis zu seinem Altersruhestand im September 1933 behielt er die Leitung des Kinderkrankenhauses in Lichtenberg inne.

Fachlich-wissenschaftliche Leistungen

Besondere praktische Erfolge hatte er bei der Behandlung der Lues connata mit einer verkürzten, höher dosierten Kombinationstherapie eines Chemotherapeutikums gegen Spirochäten (Neosalvarsan) und Quecksilbersublimat bei Säuglingen. Er wandte dieses, später national und international anerkanntes Schema der Luesbehandlung ab 1915 bei seinen Patienten in Rummelsburg erfolgreich an.

Weitere große Arbeitsgebiete Müllers waren der Stoffwechsel und die Ernährung von Kindern verschiedenen Alters. Durch aufwendige kalorimetrische Meßversuche gelang es ihm als ersten, Normwerte für den Kalorienbedarf bei Kindern im Alter über 1 Jahr zu erstellen. Müller prägte den unter Pädiatern allgemein bekannten Begriff des „Durstfieber bei Säuglingen“. Er bearbeitete nahezu alle praktisch relevanten Sachthemen der Pädiatrie u.a. die Rachitis, den „Säuglingsskorbut“, Blutkrankheiten, Wachstumsfragen, Diphtherie, Tuberkulose und andere Infektionskrankheiten und publizierte mehr als 100 wissenschaftliche Arbeiten. Sein erstes und populärstes Buch „Briefe an eine Mutter“ erschien erstmals 1919. Ab 1921 war Müller über 31 Jahre der Redakteur und Herausgeber des „Archivs für Kinderheilkunde“.

6

Abb. 3: Erich Georg Müller (1868 – 1952), Leitender Arzt des Waisenhaus-Lazaretts Rummelsburg (1902-1932)

7

Abb. 4: Bekanntestes Buch – E. Müllers „Briefe an eine Mutter“, in 8 Auflagen erschienen (1. Auflage 1919)

Das Kinderkrankenhaus Berlin-Lichtenberg

Im Frühjahr 1932 zog die Kinderkrankenabteilung unter Professor Erich Müllers Leitung aus dem Waisenhaus Rummelsburg in das 1914 eröffnete Städtische Krankenhaus Berlin-Lichtenberg, Hubertusstraße 44 um.

Damit erhielt das Lichtenberger Krankenhaus, das seit 20.1.1933 den Namen des früheren Lichtenberger Bürgermeisters Oskar Ziethen trägt, eine eigene Kinderkrankenabteilung mit 210 Betten auf 5 Stationen sowie eine Kinderpoliklinik.

Ab 1933 wurde Professor Alfred Nitschke Ärztlicher Direktor des Kinderkrankenhauses Berlin-Lichtenberg. Ihm folgte 1938 Professor Leonid Doxiades im Amt nach.

8

Abb. 5: Entbindungsanstalt des Städtischen Krankenhauses Lichtenberg (1926),

Einzug der Kinderabteilung aus Rummelsburg im März 1932 mit 5 Stationen

Am heutigen Standort im Lindenhof

Im April/Mai 1941 wurde der größere Teil der Kinderklinik des Oskar-Ziethen-Krankenhauses in den „Lindenhof“ verlegt. Die Anlage des Lindenhofs war 1896 als städtische Zwangserziehungseinrichtung für verwahrloste Knaben in Berlin-Lichtenberg eröffnet worden. Den Namen „Lindenhof“ hatten die Insassen 1917/18 erdacht, und 1919 hatte der Magistrat von Berlin offiziell die Bezeichnung „Fürsorgeanstalt Lindenhof“ bestätigt.

9

Abb. 6: Erziehungsanstalt für verwahrloste Knaben in Berlin Lichtenberg 1910 (Innenhof)

Als man den Ausbau des neuen Standortes im Lindenhof zu einem Kinderkrankenhaus gerade begonnen hatte, wurden durch einen Bombenangriff im Jahre 1943 70% der Gebäude zerstört. Mit nur 50 Betten wurde der Betrieb bis 1945 mit hohem persönlichen Einsatz des Personals behelfsmäßig aufrecht erhalten. Nach dem Sieg über das Hitlerregime ordnete die sowjetische Besatzungsmacht am 24.9.1946 an, den Lindenhof zur größten Kinderklinik im sowjetischen Sektor zu entwickeln. Die ärztliche Leitung der Kinderabteilung hatte Dr. Martin Hochbaum, übernommen. Bereits 1946 konnten wieder 170 Betten bezogen werden. Der Wiederaufbau des Lindenhofs dauerte bis 1951.

Die häufigsten Erkrankungsfälle der Nachkriegszeit waren Typhus/Paratyphus, Ruhr, Tuberkulose und andere Infektionskrankheiten. Die Mortalität betrug im Jahre 1945 16,6%.

10

Abb. 7: Zerstörtes Haus A im Lindenhof aus Sicht des Innenhofs

Das Städtische Kinderkrankenhaus (1960-1992) und heutige Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Lindenhof

Vor allem in den 70- und 80iger Jahren wurde das Spektrum der Fachdisziplinen der Klinik ständig erweitert und differenziert. So bildeten sich stationären Bereiche Pulmologie/Allergologie mit Tagesklinik, Neuropädiatrie, Gastroenterologie, Neonatologie, Endokrinologie/Diabetologie und Intensivmedizin/Dauerbeatmung heraus. Spezialsprechstunden für Hämophilie, Pulmologie/Allergologie, Nephrologie, Epileptologie/Neurologie, Diabetes und Endokrinologie sowie „dauerbeatmete Kinder“ und ein Schlaflabor ergänzen das Profil der heutigen Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Lindenhof.

Von 1976 bis 1987 war Dr. Manfred Breunung Ärztlicher Direktor der Kinderklinik Lindenhof. Bis 1989 war Dr. Michael Böttcher, Chefarzt der Neonatologischen Abteilung, amtierend in dieser Funktion tätig. Seitdem leitet Professor Dr. Volker Hesse als Ärztlicher Direktor (bis 1992) bzw. dirigierender Chefarzt die Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Lindenhof.

Trotz systematischer Bettenreduktionen von 321 Betten im Jahre 1987 auf derzeit 125 Betten und im Vergleich zu 1990 etwa halbierter Geburtenrate lag die Zahl der stationären Behandlungsfälle seit 1989 pro Jahr kontinuierlich deutlich über den Werten von 1989 und betrug 2003 5119 stationäre Fälle. Vergleicht man die Behandlungsdiagnosen der Fälle in der Klinik mit den Erkrankungen des 18./19. Jahrhunderts und der Jahre bis ca. 1960, so ist ein völlig geändertes Spektrum der Verteilung zu erkennen. Zunehmend häufiger auftretende Diagnosen sind der kindliche Typ-I-Diabetes (mellitus), psychogene Störungen, Epilepsien und Unfälle im Kleinkindalter. Seit 1998 werden in Zusammenarbeit mit dem Schwerstbrandverletztenzentrum des Unfallkrankenhauses Berlin-Marzahn thermisch verletzte Kinder in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Lindenhof nachbehandelt.

11

Abb. 8: Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Lindenhof – heute

 

Medizinische Leiter  ab 1933 

1933-1938:  Professor Dr. Alfred Nitschke (1898-1960), Chefarzt der Kinderklinik Berlin-Lichtenberg

1938-1946: Professor Dr. Leonid Doxiades (1889-1969), Ärztlicher Leiter der Kinderabteilung des Oskar-Ziethen-Krankenhauses Berlin-Lichtenberg

1947-1975: Dr. Martin Hochbaum (1910-1990), Ärztlicher Direktor (Ä.D.) des Kinderkrankenhauses Lindenhof (KKL)

1976-1987:  Dr. Manfred Breunung (*1936), Ärztlicher Direktor (Ä.D.) des Kinderkrankenhauses Lindenhof (KKL)

1987-1989: Dr. Michael Böttcher, kommissarischer Ärztlicher Direktor (Ä.D.) des Kinderkrankenhauses Lindenhof (KKL)

1989-2007: Professor Dr. Volker Hesse, Ärztlicher Direktor (Ä.D.) des Kinderkrankenhauses Lindenhof (KKL), seit 1994 Leitender Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Lindenhof

Seit 2007: Prof. Volker Stephan, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Lindenhof

Zusammenfassung

Die Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Lindenhof in Berlin-Lichtenberg blickt auf eine 300-jährige Tradition der stationären Versorgung von Kindern zurück. Sie ist die Nachfolgeeinrichtung einer der ältesten Krankenabteilungen für Kinder in Deutschland und wahrscheinlich die einzige mit einem kontinuierlichen Fortbestehen bis in die heutige Zeit. Das Kinderlazarett hatte lange vor der Gründung erster stationärer Kinderkrankeneinrichtungen Europas in London 1769, Wien 1787 und Paris 1802 (Hôpital des enfants malades) bestanden.

Die Umwandlung der Lazarettabteilung des Großen Friedrichs-Waisenhauses in ein öffentliches Kinderkrankenhaus wurde schließlich nach der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert unter dem Einfluss der in Deutschland erst neu etablierten wissenschaftlichen und praktischen Kinderheilkunde vollzogen.

 

Quelle: Poster-Zusammenstellung U. Voß, St. Lüder, V. Hesse; Klinik für Kinder- und Jugendmedizin „Lindenhof“ Berlin, Akad. Lehrkrankenhaus der Charité-Universitätsmedizin. Bearbeitet C. Bader. 

 

3 – Die Anfänge der Kinderheilkunde in Berlin

Die Kinderklinik der Charité.